Heimatvertriebene

Die Ankunft der Heimatvertriebenen in Schwäbisch Gmünd im Spiegel von Schüleraufsätzen
Von Sophie REIHER und Alexa BRAUN | Stand: 2. April 2019 | Lizenz: CC BY

Die Viertklässlerin Regina Göbel wurde gemeinsam mit ihrer Familie und vielen anderen Menschen nach Ende des Zweiten Weltkrieges aus ihrer Heimat im heutigen Westpolen vertrieben. In einem Aufsatz beschreibt sie die Erlebnisse während der Flucht nach Schwäbisch Gmünd:
„Am 28. September 1945 kamen wir, nach langer, beschwerlicher Reise, endlich in Gmünd an. Die erste Zeit wohnten wir mit meiner Tante beisammen. Dieses Jahr im April bekamen wir in der Ledergasse eine Wohnung, wenn sie auch klein ist, so sind wir doch froh [,] das[s] wir ein Dach über dem Kopf haben.“ (Regina Göbel 24.6.1946)
Schwäbisch Gmünd war nach dem Zweiten Weltkrieg das Ziel vieler Vertriebener aus dem ehemals deutschen Osten. Am 25. Januar 1946 erreichte der erste Transport die Stadt. Die Flüchtlinge wurden zunächst in der Hindenburgoberschule, dem heutigen Parler-Gymnasium, und in den Schenk-Baracken, ehemaligen Unterkünften für Fremd- und Zwangsarbeiter des Aluminiumwerks Schenk, untergebracht.
Eindrucksvoll sind bereits die „nackten“ Zahlen: Zwischen 1944 und 1951 verloren mehr als 12 Millionen Deutsche ihre Heimat. Rund 8 Millionen von ihnen kamen in den westlichen Besatzungszone unter, etwa 4 Millionen in der sowjetisch besetzten Zone.
Der 25. Januar 1946 markiert einen wichtigen Einschnitt in der neueren Stadtgeschichte. In den folgenden Monaten trafen immer weitere Transporte ein, so dass am 31. Dezember 1949 der Anteil der Heimatvertriebenen an der Gmünder Bevölkerung 30% betrug. Hatte die Stadt 1944 nur 22.941 Einwohner, so lebten 1949 schließlich 33.578 Bürger hier. (Müller 1997: 115)

In ihrem Aufsatz berichtet Regina von einer wahren Odyssee. Obwohl es sich bei ihr um eine Autorin im Kindesalter handelt, schreibt sie erstaunlich rational – selbst die Passage, in der sie den Tod ihres Bruders schildert („Mein kleines Brüderchen mußten wir in Berlin begraben, denn es war unterwegs verhungert“), wirkt kühl und distanziert. Insgesamt macht der Aufsatz einen etwas schematischen Eindruck: Die genauen Zeit- und Ortsangaben sowie Formulierungen wie „Hals über Kopf“ (Z. 12) sind für eine Viertklässlerin eher untypisch. Das gleiche gilt wohl für die Glorifizierung der „geliebten Heimatstadt“.
Bereits in der Endphase des Zweiten Weltkriegs flohen viele Deutsche vor den anrückenden Roten Armee, auch wenn dies in den Augen begeisterter Nationalsozialisten als Verrat am Deutschen Reich und als Ausdruck von Zweifeln am viel beschworenen Endsieg galt. Manche von ihnen versuchten nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 in ihre Heimat zurückzukehren. Sie befand sich allerdings schon bald hinter dem „eisernen Vorhang“.
Unmittelbar nach Kriegsende forderten die Siegermächte die Abtretung der deutschen Ostgebiete. In Polen und der Tschechoslowakei kam es zu „wilden Vertreibungen“, noch bevor eine rechtliche Grundlage für die territoriale Neuregelung beschlossen worden war. Diese „wilden Vertreibungen“ hatten für die Deutschen gravierende Folgen: Zu Fuß mussten sie die Heimat verlassen, häufig wurden sie zuvor ausgeplündert, in Internierungslagern festgehalten oder zur Zwangsarbeit verpflichtet. Die Gerichtsprozesse, die von den kommunistischen Revolutionsgarden inszeniert wurden, zwangen rund 450.000 Menschen, darunter viele Frauen, Kinder und Alte, zur Flucht. Bei unmenschlichen „Todesmärschen“ mussten die Betroffenen ohne Transportmittel die Heimat verlassen und so schnell wie möglich die Grenze zu Österreich passieren, so etwa beim „Brünner Todesmarsch“ im Mai 1945 mit rund 25.000 Flüchtlingen. Um die Gräuel zu minimieren, vereinbarten die Alliierten in Artikel XIII des Potsdamer Protokolls, dass
„die Überführung der deutschen Bevölkerung oder Bestandteile derselben, die in Polen, Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind, nach Deutschland durchgeführt werden muß. Sie stimmen darin überein, dass jede derartige Überführung, die stattfinden wird, in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen soll.“
Die „humane(n) Grundsätze“ wurden jedoch häufig schon deshalb nicht eingehalten, da die Ausweisung unter großem Zeitdruck erfolgte.
Regina Göbel und ihre Familie waren nicht die einzigen Flüchtlinge, die in Schwäbisch Gmünd nach Schutz suchten. Dies wird in verschiedenen Schüleraufsätzen deutlich, die sich noch heute im Stadtarchiv befinden. Sie wurden auf Initiative des Stadtarchivars Albert Deibele verfasst und von den Kindern im Rahmen des Schulunterrichts als Hausaufgaben angefertigt. Dabei lassen sich zwei Gruppen von Texten unterscheiden: einerseits Aufsätze von einheimischen Kindern über ihre Erfahrungen mit den Neuankömmlingen, andererseits Aufsätze von neu aufgenommenen Kindern über ihre Flucht und die Ankunft in Gmünd.
Offensichtlich handelte es sich weniger darum, den Schülerinnen und Schülern die Gelegenheit zu geben, ihre Erlebnisse schriftlich zu verarbeiten, als darum, bewusst Zeugnisse für die Nachwelt zu produzieren. In diesem Zusammenhang ist auffällig, dass sich in Aufsätzen von Kindern aus unterschiedlichen Klassenstufen identische Formulierungen finden. Daraus könnte man den Schluss ziehen, dass bestimmte Wortlaute vorgegeben waren und die Texte möglicherweise sogar in Teilen von der Tafel abgeschrieben wurden. Ein Hinweis hierauf lässt sich im Text von Ruth Heide finden, die in ihrem Aufsatz „Ostflüchtlinge in Waldhausen“ vom 3. Juni 1946 die Ankunft der Flüchtlinge und das damit verbundene Konfliktpotenzial beschreibt.

In Zeile 12f. wiederholt Ruth den Ausdruck „da bekamen sie“, der bereits zwei Zeilen zuvor verwendet wurde. Nun ist er eingeklammert. Womöglich ist Ruth beim Abschreiben von der Tafel in der Zeile verrutscht. Weiter unten gilt dies ebenso für „noch“ und „sie“. Beide Wörter tauchen an Stellen auf, die logisch keinen Sinn ergeben. Die Verwendung des Verbs „bekommen“ stellt die Flüchtlinge als passive Personen dar, die auf die Hilfe der Einheimischen angewiesen sind. Außerdem verwendet Ruth das Verb „ausladen“, um den Flüchtlingstransport zu beschreiben. „Ausladen“ ist jedoch eher im Zusammenhang mit Gegenständen oder Vieh angebracht, nicht bei Menschen. Auch die häufige Verwendung des Verbs „müssen“ verweist auf künftiges Konfliktpotenzial. Manche Einheimischen fühlten sich offensichtlich zur Aufnahme der „Fremden“ amtlicherseits verpflichtet.
Die elfjährige Schülerin Regina Göbel schildert in ihrem Aufsatz „Das Blutgericht“ die Vorkommnisse in Landskron, einer kleinen Gemeinde im Sudetenland, am 17. und 18. Mai 1945. An diesen beiden Tagen wurden dort 40 Männer ermordet, 100 weitere begingen Selbstmord. Ein gutes Jahr später beschreibt Regine in ihrem Aufsatz das schreckliche Massaker.

Es ist anzunehmen, dass der Begriff des „Blutgerichts“ von den Deutschen eingeführt wurde und sich deshalb auch in Regina Göbels Bericht wiederfindet. Es handelt sich dabei um ein von tschechischen Partisanen durchgeführtes „Volksgericht“, das sich gegen die deutschen Bewohner der Stadt Landskron richtete. Jeder Deutsche musste sich dem „Richtertisch“ stellen. Verurteilt wurde man entweder zur Prügelstrafe oder zum Tod durch Erschießen bzw. durch den Galgen. Zahlreiche Todesurteile wurden verhängt und sofort durchgeführt. Ein Ziel der kommunistischen Partisanen war es, mit Hilfe der Urteile dieses Gerichts auch die „wilden Vetreibungen“ zu legitimieren.
Regina Göbels „Blutgericht“ ist als sehr interessante Quelle zu betrachten, da der Text die Vorgänge in Landskron aus der Perspektive eines Kindes schildert. Der Aufsatz liefert eine anschauliche Beschreibung der Ereignisse, insbesondere der Gewalttaten. Das Wort „Partisan“ – als Inbegriff des heimtückischen Bösen – springt dabei besonders ins Auge. Von der NS-Propaganda war der Begriff in der Endphase des Zweiten Weltkriegs nach Kräften ausgeschlachtet worden. Ob ein elfjähriges Mädchen die ganze Bedeutung des Wortes überhaupt begreifen konnte, steht auf einem anderen Blatt.

Quellen und Literatur
- Müller, U.: „Voraussetzungen der Vertreibung“. In: Verlorene Heimat - gewonnene Heimat. Die Vertriebenen in Schwäbisch Gmünd und im Ostalbkreis. Schwäbisch Gmünd 2012, S. 67-75.
- Müller, U.: Die Ankunft der Heimatvertriebenen in Schwäbisch Gmünd 1946. In: Jahrbuch für deutsche und osteuropäische Volkskunde 40 (1997), S. 116-123.
- Stadtarchiv Schwäbisch Gmünd, Schüleraufsätze. Signatur C02: Zeitgeschichtliche Sammlung, Sachen Schüleraufsätze.

 

 

 

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